EINTUNKT LESEPROBE

BETTY KANN FLIEGEN

Auf Borneo leben besonders viele Gleitbeutler, Reptilien und Schlangen, die durch die Luft gleiten können. Manche sogar rund 60 Meter weit. »Fliegend« können die Tiere ihren Lebensraum schneller und sicherer erobern.

»Wo zum Teufel ist sie?« Mike rannte im Backstagebereich wütend auf und ab. »Ich bring sie um, wenn sie das wieder vergeigt.« Er stieß mit beiden Händen zornig gegen die Seite des Tischfußballtisches in der Mitte des Raumes. Die Spieler wackelten und eine einsame Kugel rollte scheppernd Richtung Tor.

Claudia, verantwortlich für Artist Liaison – auf gut Deutsch »Künstlerbetreuung« –, war genauso angespannt wie Mike und seine Band-Kollegen. Dennoch versuchte sie, positiven Optimismus zu verstreuen. »Wir haben noch ein paar Minuten. Den Line-Check auf der Bühne haben unsere Leute schon gemacht.«

»Der Line-Check. Wer redet vom Line-Check? Wir brauchen sie nicht für den Line-Check. Die Frage ist, ob sie überhaupt kommt. Diese verdammte Bitch ...«

»Redest du von mir? Wichser.« Alex stand im Türrahmen. Ihre Augen starr, riesige Pupillen, der Blick glasig, kalt.

Mike zeigte ihr den Mittelfinger. »Ja, genau von dir reden wir. Dass du uns immer hängen lässt. Deine Allüren, dein Egoismus. Du machst mich krank. BITCH.«

Alex machte einen Schritt auf Mike zu und kurz sah es so aus, als wollte sie sich auf ihn stürzen.

Die drei ZZ-Top-Lookalikes zogen die Köpfe ein.

In letzter Sekunde stoppte Alex. »Bei der nächsten Tour bist du ohnehin draußen.« Dann wandte sie sich mit einem strahlenden Lächeln an den Stagemanager. »Los, Pauli, let the show begin.«

Pauli hatte 30 Jahre Backstage Life in den Knochen. Er hatte schon schlimmere Eklats erlebt. Stars, die so betrunken waren, das man sie zu zweit links und rechts untergehakt auf die Bühne schleifen musste. Stars, die sich im Drogenrausch die Brust mit einer zerbrochenen Bierflasche öffnen wollten. Sänger, die so große Bühnenangst hatten, dass sie erst die Toilette vollreiherten und in Folge auf die Bühne getreten werden mussten. So ein kleines Wortgefecht zwischen einer Sängerin und ihrem Lead-Gitarristen war Peanuts dagegen. Außerdem wusste er aus Erfahrung, dass zumeist alles gut wurde, wenn eine Band dann endlich auf der Bühne war. Die Bühne transformierte. Sie machte auch die schlimmsten Performer – die Betrunkenen, Drogenabhängigen, Zweifelnden und Ängstlichen – zu schillernden Göttern und Göttinnen, eins mit ihrer Musik und dem Universum.

Pauli führte die Band zum Bühnenaufgang und betrat diese als erste. Dann griff er nach dem Mikro, klopfte kurz daran und nickte zufrieden, als ihm ein hohler Ton bestätigte, dass es einwandfrei funktionierte. Es war seine Aufgabe, die Band anzukündigen. Er war der Zeremonienmeister im Zirkus der Eitelkeiten.

Pauli grinste, seine Mundwinkel, die von dichtem Bartwuchs umgeben waren, zuckten. Er tippte noch mal gegen das Mikrofon, bis er sicher war, die Aufmerksamkeit aller zu haben. Er senkte seine Stimme, um ihr noch mehr Gewicht zu geben. »Please welcome all the way from America featuring our homegrown talent …« Er machte eine Pause. »… The Alex Woods Band.« Er deutete auf die Band, die unter tobendem Applaus die Bühne betrat, lächelnd, winkend.

Alex als Letzte. Energiegeladen, katzengleich. Sie schüttelte die weißblonden Haare in Form. Die großen

Augen, die gerade noch so kalt und leer gewirkt hatten, sogen die Wärme des Publikums auf und füllten sich damit.

»Alex, yeahhhh«, brüllte jemand laut. »Alex, Alex!«, stimmten andere ein, bis das Ganze in einem Gesang ausartete. »Alex, Alex, Alex!« »Mike!«, kreischte eine weibliche Stimme dazwischen. Mike sah kurz auf und winkte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

Die Bandmitglieder nahmen ihre Plätze ein. Alex vorne in der Mitte, Mike und der Bassist ein bisschen versetzt hinter ihr. Ganz außen Keyboard und Drums. Der Drum Player begann sofort, das Drum Kit neu anzuordnen, und spielte zur Kontrolle ein kleines Solo. Die anderen schlossen ihre Instrumente an die bereitgestellten Verstärker an. Mike entlockte seiner Gitarre prüfend ein paar Töne und drehte dann an einem Regler, um die Lautstärke nachzustellen.

Alex trat noch einen Schritt vor, sah sich um und begann zu sprechen. Sie hatte nichts vorbereitet, das tat sie nie. Sie schaute in die Gesichter ihrer Fans und nahm die Liebe auf, die ihr entgegenkam wie eine Welle. Es war der perfekte Sommertag. So viele glückliche Gesichter. Männer mit Tattoos und Bierbechern in den Händen, die zu johlen begannen, als Alex zum Mikro griff. Frauen in knappen Tops und Hotpants, die ihr selig zulächelten. Verliebte Jungs, die ihre Freundinnen auf den Schultern trugen. In der ersten Reihe ein Mann, der ein Schild hochhielt: »Alex, I love you forever«. Daneben eine Mutter, die ein kleines Mädchen mit Kopfhörern an der Hand hielt. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Security die Kleine in den gesicherten Bereich neben sich winkte, wo sie geschützt war und besser sehen konnte, was auf der Bühne vor sich ging. Die Kleine strahlte Alex an, als stünde sie vor dem Christkind persönlich. Alex warf ihr eine Kusshand zu.

Liebe. Ein Festival der Liebe. Sie hatte schon immer gehört, dass Bildein speziell war. Aber damit, damit hatte sie nicht gerechnet. Alex hatte plötzlich einen Kloß im Hals.

Sie räusperte sich und griff dann zum Mikro. »Es hat 20 Jahre gebraucht, um hierher zu kommen.« Sie schluckte. »Ich bin so froh, dass ich da bin. Heute mit euch.« Die Stimme war jetzt sexy, rauchig, gefühlvoll. »Hello Bildein. I love you.«

Das Publikum begann erneut zu klatschen, zu johlen und zu pfeifen.

Mike und der Bassist warfen sich Blicke zu. »Alex on stage«. Sie hatten es schon so oft erlebt, aber es war jedes Mal faszinierend zu beobachten. Ein Monster verwandelte sich vor ihren Augen in einen Engel. Show-Alex war eine andere als die Alex, die ihnen Tag für Tag das Tourleben zur Hölle machte. Show-Alex war einfach anbetungswürdig.

»Are you ready to rock?«

»Yeahhh«, brüllte die Masse.

»Are you really ready to rock?«

»Yeaaaaaaaaaaah!«

Alex nahm den Mikrofonständer. Mit Klebeband waren darauf ein Dutzend Plektren befestigt. Gitarren372

blättchen mit ihren Initialen bedruckt. Sie riss das erste herunter und entlockte ihrer Gitarre einen Akkord.

Das Publikum grölte.

»Ok, one, two … and one, two, three, four!«

Die Band legte los. Die Menge jubelte, als sie an den ersten Klängen den Song Rush of Life erkannte. Das Lied war fetzig, rockig, melodiös, emotional, mitreißend. Alex hatte ihr Publikum von der ersten Sekunde an an sich gerissen und ließ es nicht mehr los. Der Glanz in den Augen ihrer Fans brachte Alex zum Leuchten. Von den ausgestreckten Armen, die sich ihr entgegenreckten, schien eine nie enden wollende Energie auszugehen, die sie trug, hochhob und über sich hinauswachsen ließ.

Bei I know, you told me last night überließ Alex ihren Fans den Refrain.

I know I was not always easy.

I know you told me last night.

I know I will love you forever.

I know together we’ll find the light.

Über tausend Menschen, die a capella im Chor sangen. Gänsehautmomente. Darunter vielleicht ein Schlüsselmoment für manche im Publikum. So wie für das Pärchen, das sich getragen von der Emotion in dieser Sekunde zum ersten Mal küsste und sich den Song zehn Jahre später im Radio zum Jahrestag wünschen würde. Aber das wussten sie an diesem heißen Sommertag noch nicht.

Dann der Höhepunkt der Show. Two times a Fool. Alex’ größter Hit. Tausende Male hatte sie ihn schon gesungen. Diesmal sang ganz Bildein mit ihr. Jeder hier kannte den Text. Alex hatte jetzt die Rockgitarre gegen eine Akustikgitarre ausgetauscht. Diese ließ die Ballade noch gefühlvoller, noch eindringlicher, noch authentischer wirken. Jede Note, jeder Ton eine Emotion, die in tosendem Applaus endete.

»Sie ist unglaublich!!!«, brüllte Vera Betty zu. Sie hatte die Bestatterin in der Crowd entdeckt.

»WAS?« Betty hatte kein Wort verstanden.

»Deine Schwester! Sie ist UNGLAUBLICH«, brüllte Vera so laut in Bettys Ohr, dass dieses zu Klingeln begann. »Ich weiß!«, brüllte Betty zurück und verzog das Gesicht zu etwas, das man mit viel Fantasie als ein Lächeln interpretieren konnte.

Vera hatte schon eine Nacht am Campingplatz hinter sich. Sie hatte, von einer lästigen Gelse geplagt, nur wenig geschlafen und eigentlich vorgehabt, am Nachmittag ein Nickerchen zu halten. Dann war daraus aber nichts geworden und jetzt war sie froh darüber. Nie im Leben hätte sie dieses Konzert verpassen wollen.

»Mit wem bist du da?«, brüllte Betty.

»Mit Eva und Finz«, brüllte Vera zurück und zeigte nach hinten, wo ein Pärchen im Gleichklang zu Easy, my love shakte. »Und du?«

Betty deutete Richtung Bar und winkte dann Hacki zu, der sich soeben mit zwei Bechern Uhudlerspritzer einen Weg durch die Menge bahnte. Hacki war nicht allein. Hinter ihm war Bernd.

Vera spürte ein unangenehmes Prickeln von den Haarspitzen bis zu den Zehen. Oh nein, bitte nicht. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. »Ich geh nach vorne«, brüllte Vera und deutete Richtung Bühne. Betty nickte nur geistesabwesend. Ihr Blick war jetzt wieder starr auf ihre Schwester gerichtet. Veras Herz klopfte. Sie hoffte, Bernd hatte sie nicht gesehen.

Vera drängte sich nach links. Dort bei den Toiletten war ein schmaler Gang. Eine Abkürzung vorbei an der Crowd nach vorne zur linken Ecke der Bühne. Einfach war das Durchkommen dort aber auch nicht. Vor der Damentoilette hatte sich eine lange Schlange gebildet. Ein paar Mädchen und Frauen wollten sich nicht anstellen und spazierten an der Schlange vorbei in die Herrentoilette. Vera sah durch die geöffnete Klotür die irritierten Blicke der Männer an den Urinalen, wenn sie ein weibliches Wesen vorbeiflitzen sahen. Wie sie nervös nach hinten sahen und dabei schützend die Hände über ihren Schritt hielten.

Vera schmunzelte und ging weiter. Sie war jetzt ganz vorne bei der Bühne, wo die Menschen dicht gedrängt tanzten und abrockten. Sie entdeckte eine winzige Lücke und quetschte sich mit einem entschuldigenden Lächeln hinein. Man wusste bei Rockkonzerten nie, wie andere reagierten, wenn man sich vordrängte. Aber die Leute rund um sie strahlten sie nur glückselig an.

»Gleich springt sie!«, schrie ein dunkelhaariger Typ neben ihr, er trug ein Muscle Shirt und seine Schulter zierte ein Tribaltattoo. »Alex, Alex, Alex!«

Alex trat zu den hämmernden Beats von Drums, Bass und Lead-Gitarre nach vorne. »Dare you, dare me«, sang sie. Dann fuhr sie sich nervös durch die blonden Haare, sah abschätzend in den Bühnengraben. Holte tief Luft. Sie wird doch nicht wirklich … dachte Vera. Aber da rannte Alex schon los und sprang mit weit geöffneten Armen los. Sie flog in die Menge, wissend, dass man sie auffangen würde, tragen, umarmen. Wissend, dass alles gut war.