Aufblattelt / LESEPROBE

Das Pensionistinnentreffen

Weibliche Schaben werden bis zu 200 Tage alt und leben damit 75 Prozent länger als männliche.

Dienstagnachmittag war beim Kirchenwirt Pensionistentreffen. Jede Woche um 15 Uhr trafen sich hier die Dorfältesten. Eigentlich hätte es Pensionistinnentreffen heißen müssen. Die meisten der Anwesenden waren Witwen, denen schon vor Jahren der Mann „weggsturbn“ war. Umso begeisterter waren die Pensionistinnen, als sie hörten, dass die Horvath Hilda zum heutigen Treffen einen Mann mitbringen würde. Und nicht irgendeinen Mann, sondern einen echten Grafen. „Ich habe ihn angerufen und gefragt, ob er mich begleiten will, und er hat sofort ja gesagt“, erzählte sie jedem, der es hören oder nicht hören wollte.

„Wer initiiert diesen wöchentlichen Seniorenklub?“, fragte Bertl auf dem Weg zum Kirchenwirt. Als Galan der alten Schule hatte er Hilda abgeholt. Nicht mit dem Klapprad, sondern mit dem Mercedes Oldtimer. Das Auto entzückte Hilda über alle Maßen. Der Mercedes 220 SEB stammte aus den 1960er-Jahren, war eisblau und hatte schnittige Heckflossen und runde Scheinwerfer, die wie freundliche Augen aussahen.

„Früher einmal die SPÖ, da gab es immer einen Gratisfrühschoppen und Vorträge zur Dickdarmkrebsvorsorge. Irgendwann ist der Vorsteher der Ortsgruppe aber dann auch weggsturbn, und es hat sich kein Nachfolger gefunden. Seither treffen wir uns halt nur mehr so.“ Hilda balancierte auf ihrem Schoß einen rosa Faltkarton mit Tragegriffen, der Kekse und Mehlspeise enthielt. Seit die SPÖ die Konsumationen nicht mehr sponserte, brachten sich die Pensionistinnen ihre Jause selber mit.

„Was sagt denn der Wirt dazu, dass die Gäste ihr Essen mitbringen?“

Hilda lachte: „Der ist das gewohnt. Der kocht schon lange nicht mehr. Man findet ja keine Köche mehr, und Geschäft ist das auch keines mit dem Essen. Der verdient nur am Alkohol.“

„Ein Wirt, der keine Küche bietet?“, fragte Bertl verwirrt.

„Na wenn der Sportverein oder die Feuerwehr ein Fest haben oder wenn eine Hochzeit ansteht, kocht er schon. Dann hilft die Familie zusammen“, erklärte Hilda. „Die Omas können eh besser Schnitzel backen als die echten Köche. Die backen die in Schweineschmalz, nicht in Öl.“

„Mein Stiefsohn will auch in einem Wirtshaus heiraten“, sagte Bertl und parkte seinen Wagen auf den gekennzeichneten Schrägparkplätzen vor dem Kirchenwirt. Die Fensterkästen des Gasthauses waren mit roten Pelargonien bepflanzt. An der Wand hing eine Bierwerbung. Die mit gelben ausgeblichenen Plastikschnüren bespannten Sessel im kleinen Gastgarten waren gegen die Tische gekippt. Kleine Wassertropfen hatten sich zwischen den Schnüren gesammelt. Die weiß lackierten Beine der Stühle und Tische waren rostig.

„Wir sitzen immer drinnen“, stellte Hilda klar.

Sie freute sich, dass der Herr Graf ihr die Autotür aufhielt. Als er ihr den Arm anbot, tat sie aber so, als hätte sie es nicht bemerkt, und hielt den Mehlspeiskarton entschlossen mit beiden Händen fest. Nicht, dass die Frau Fuith und die anderen noch dachten, sie hätte ein Pantscherl mit dem Herrn Grafen, wenn sie da jetzt Arm in Arm reinspazierten. Ein Pantscherl. Sie kicherte innerlich. Der Herr Graf war verheiratet und mit seinen 67 Jahren fast zehn Jahre jünger als sie. Und ganz generell würde sie sich in ihrem Alter sicher keinen Mann mehr antun. „Die suchen alle nur eine Pflegerin, die sie versorgt!“, predigte sie immer den anderen. „Ich nehm die nur ambulant aber nicht stationär.“ Nicht, dass der Herr Graf ihr Avancen gemacht hätte. Ganz im Gegenteil. Er verhielt sich Hilda gegenüber äußerst korrekt. Einsam wirkte er halt, obwohl er so jovial war und so viel lachte. Aber Hilda konnte man nichts vormachen. Der Graf wirkte wie einer, der seinen Lebensmut verloren hatte.

Hilda und Bertl betraten den Kirchenwirt. Die Gaststube war mit großen grau gesprenkelten Bodenfliesen ausgelegt. Bei der Einrichtung dominierte Fichtenholz, dem dank mittelbrauner Lackierung jegliche natürliche Patina konsequent verwehrt geblieben war. Hinter der Bar hing ein Flachbildschirm. Auf dem Tresen stand ein Automat, man konnte Münzen einwerfen und sich eine Handvoll Erdnüsse herausdrehen. In dem Körberl daneben befanden sich ein Dutzend Sackerl. Adebar Knoblauch Chips.

Auch die Decke des Raumes, die Fensterbretter und die Verbauten der Heizkörper waren aus Holz. Wo kein Holz war, dominierte Raufasertapete. In der steckten Nägel, die in Holz gerahmte Bilder festhielten. Blumen und bäuerliche Motive. Röhrende Hirsche und betende Hände mit Rosenkranz umschlungen. Die großen Fenster waren teilweise von Raffgardinen verdeckt. Auf den Fensterbrettern standen Kakteen, deren bunte Übertöpfe zu den bunten Holzkugeln der Zählmaschine passten, die man fürs Kartenspielen brauchte. Weil es im Raum dunkel war, waren die eingelassenen Deckenspots eingeschaltet. Eine gepolsterte Eckbank zog sich über zwei Seiten des Raumes. Die Stühle waren rustikal. Die Sitzpolster in Moosgrün mit kleinem Blumenmuster gehalten. Die blaugrünen Tischtücher waren farblich fast darauf abgestimmt. Auf jedem Tisch stand eine Menage mit Salz, Pfeffer, einzeln verpackten Zahnstochern und dunkelbraunen Maggiflaschen – flüssiger Suppenwürze. Und das, obwohl Hilda gesagt hatte, dass hier kaum gekocht wurde. Wurde Maggiwürze überhaupt noch produziert? Wie lange hielt sich das Zeug? Bertl wurde aus seinen Gedanken gerissen.

„Ja Hilda, wen bringst du denn heute mit?“, fragte die Frau Fuith und strahlte die Neuankömmlinge an. Ihr Busen wogte vor Begeisterung. Neue Männer waren beim Pensionistenverein, wie gesagt, eine Rarität. Abgesehen von den Zuagroasten aus Vorarlberg und Tirol, aber die verstand man immer so schlecht.

Die anderen vier Frauen schauten ebenfalls auf. Der einzige männliche Gast saß an der Bar, nippte an einem Glas Zweigelt und sah dem Wirten beim Gläserpolieren zu. Bertl blickte sich um. „Das ist …“ Hilda wusste aber nicht genau, wie sie Bertl korrekt vorstellen sollte. Mit „Herr Graf“, „von und zu“, als Durchlaucht oder gar Exzellenz?

„Hohenfelsen“, sagte Bertl. „Albert Hohenfelsen.“ Der Wirt hörte auf, das Glas zu polieren, und schaute neugierig herüber. Der Name hinterließ im Raum Wirkung, lange nachdem er ausgesprochen war. Jeder wusste, wer die Grafen Hohenfelsen waren.

Hilda stellte die Anwesenden vor. Was vergebene Liebesmühe war, weil Bertl sich die Namen ohnehin nicht merkte. Er speicherte Menschen aufgrund ihrer herausragenden Eigenschaften ab. Die „Kugelrunde“, „die Neugierige“, „die Verhärmte“, „die Fürsorgliche“. Hilda war wohl „die Unverblümte“. Bertl mochte es, wenn Menschen geradeheraus und direkt waren. Er war seit seiner Geburt vom Schleimern und Arschkriechern umgeben. Menschen wie Hilda waren da eine erfrischende Abwechslung.

„Die Fürsorgliche“ reichte Bertl den Keksteller. „Greifen Sie zu. Das sind die Kekse von den burgenländischen Hochzeitsbäckerinnen aus Badersdorf.“

„Am besten ist der Weiße Traum“, sagte Hilda und deutete auf ein weißes Biskuitgebilde, das mit Buttercreme, Kokosraspeln und einer kandierten Kirsche verziert war.

„Hat wer geheiratet?“, fragte der Wirt und brachte ungefragt Kuchenteller und Gabeln für Hilda und Bertl, bevor er die Getränke aufnahm. Einen kleinen Braunen für Bertl, einen koffeinfreien Häferlkaffee für Hilda.

„Nein, aber es wird wer heiraten“, sagte Hilda. „Sein Sohn“, sie zeigte auf Bertl.

Großes Ah und Oh am Tisch. Hochzeiten waren nach Krankheit, Tod und Scheidung das Lieblingsthema des Pensionistentreffs. Der Mann an der Bar begann, sein Rotweinglas zu schwenken und den Zillertaler Hochzeitsmarsch anzustimmen.

„Gib a Ruah, Peppi“, fauchte die Hilda. „Mir san net in Tirol.“

„Wann denn?“, fragte die Neugierige.

„In drei Wochen“, sagte Bertl. „Es ist alles recht spontan angesetzt.“

„Ist die Braut krank?“, fragte die Neugierige, die neben Hilda saß, und schob sich ein Mokkaschifferl in den Mund.

Hilda stieß ihre Sitznachbarin in die Rippen. „Bist ruhig, das geht uns nix an.“

Nichtsdestotrotz starrten nun fünf Augenpaare Bertl erwartungsvoll an.

Der blickte sich verwirrt um. „Nein, sie erfreut sich bester Gesundheit. Sonst könnt ja die Hochzeit nicht stattfinden.“

Der Wirt stellte Bertls Kaffee auf den Tisch und grinste breit. „Sie ist also frisch?“

„Ich glaube, ich habe die Frage nicht verstanden“, sagte Bertl irritiert.

Der Mann an der Bar stand auf und begann, einen Vers vorzutragen.

„Ist die Braut frisch, springt sie übern Tisch. Ist die Braut krank, steigt sie über d´ Bank.“

Die Damen nickten zustimmend. „Genauso isses“, sagt der Wirt

„Dieser Spruch wird bei jeder burgenländischen Hochzeit vor dem Kranzlabtanzen aufgesagt“, erklärte Hilda. „Und dann muss die Braut entscheiden, ob sie über den Tisch oder über die Bank steigt.“

„Ja aber was soll das heißen: Ist die Braut krank?“

„Na krank“, sagte Peppi und wölbte die Hände über dem Bauch.

Endlich fiel bei Bertl der Groschen. „Schwanger. Er meint schwanger?“

Alle im Raum nickten und lachten. „Natürlich steigen alle Bräute über den Tisch, auch wenn sie krank sind. Tarnen und täuschen ist die Devise, auch wennst im neunten Monat bist“, sagte Hilda und zwinkerte Bertl verschwörerisch zu.

„Ich glaube nicht, dass sie krank ist“, sagte Bertl, aber ganz sicher war er sich nicht. Das wäre zumindest eine Erklärung für diese überhastete Hochzeit gewesen.

„Jessas, nur drei Wochen, wia tuits do mit da Möspeis?“, wechselte die Kugelrunde das Thema: „Bei meiner Hozeit homs neinzig Kilo Möspeis bochn, do homs scho a Monat furher aougfongt zan Bocha. Domois hom die Leit hoit no an Hunger ghobt. “

„Zu früh darf man aber auch nicht anfangen. Vor allem nicht mit den Torten. Die Buttercremetorten waren früher oft schon ganz grün und ranzig, wenn man die im Sommer zu früh gebacken hat. Die haben dann nach Seife geschmeckt.“ Die Verhärmte verzog angeekelt den Mund.

„Am schönsten waren die Torten mit den silbernen Liebesperlen und den kleinen harten Zuckerblumen. Und die Guglhupfs, in denen eine Barbiepuppe gesteckt ist. Der vorgebackene Kuchen war dann quasi der Rock der Puppe. Der war ganz dick mit Zuckerguss überzogen und mit kleinen Rosen verziert“, schwärmte Hilda in Erinnerungen.

„Haben S´ schon einen feschen Anzug für Ihren Herrn Sohn?“, fragte die Neugierige.

„Wir sind immer nach Wien ausse um a neues Gwand gefahren“, sinnierte die Verhärmte. „Gut und teuer musste es sein. Am besten von an Designer. Weil geheiratet wird nur einmal im Leben. Geh, erzähl die Geschichte von deiner Kontra-Schwiegermutter!“ Sie stupste die Kugelrunde an.

Die Kugelrunde kicherte, freute sich aber über die Gelegenheit, eine Anekdote zum Besten zu geben. „Also, als meine Tochter geheiratet hat, ist die Mutter ihres Zukünftigen nach Wien gefahren, um sich ein Kostüm zu kaufen. Sie war beim Fürnkranz. Und dort hat man sie ganz toll beraten. Man hat ihr ein wunderschönes dunkelblaues Kostüm empfohlen, mit einer weißen Bluse mit Stehkragen. Genauso eines, wie sie gesucht hat.“

„Und dann?“, fragte die Neugierige, obwohl sie die Story schon kannte. Das Nachfragen diente nur der Choreografie.

„Und dann …“ Die Kugelrunde nahm einen Schluck von ihrer heißen Schokolade und machte eine Pause, um die Spannung zu erhöhen. Ihr Doppelkinn zitterte vor Vergnügen: „Dann hat sie ihre Brieftasche gezückt und ganz gschamig nach dem Preis gefragt.“

„Und dann …“, echoten die Frauen.

„Dann hat der Verkäufer den Preis genannt, und die Kontra-Schwiegermutter war ganz betrübt, und hat gesagt …“

Sie machte noch eine Kunstpause.

Alle hingen an ihren Lippen.

„Sie hat gesagt, es täte ihr unglaublich leid, aber sie könne das Kostüm leider nicht kaufen, weil …“

„Weil?“, widerholte die Neugierige.

„Weil es zu billig war“, platzte die Kugelrunde heraus. „Es war die Hochzeit ihres einzigen Sohnes. Sie ist extra nach Wien gefahren. Da wollte sie ein richtig edles, teures Kostüm. Nicht eines, dass man sich auch für eine Taufe gekauft hätte.“

Die anderen Frauen nickten zustimmend.

„Meine Hochzeitsschuhe haben allein 900 Schilling gekostet“, sagte Hilda, „Die waren vom Salon Inge in der Rotenturmstraße. Gedrückt haben sie trotzdem.“ Sie lachte: „Und das Kleid war von der Schneiderin. Echte Couture nach einer Vorlage aus der Burda. Und die Männer haben die Anzüge damals beim Grandits in Wien gekauft, oder beim Peppino in Eisenstadt.“

„Ihr Herr Sohn hat sicher einen Anzug von Armani“, mutmaßte die Neugierige. „Oder Dolce und Gabbana.“

Bertl bezweifelte es, aber Ferdinands Wesen zu erklären, hätte zu weit geführt. Er ließ die Damen in dem Glauben.

Die Kugelrunde sah auf die Uhr. „Wir müssen. Es ist gleich Essenszeit!“

Es war kurz vor 17 Uhr. Bertl wunderte sich, wie man nach diesen Bergen von Keksen, Kuchen und Schnitten noch Hunger haben konnte. Er übernahm die Zeche für die Runde. Der Betrag für die sechs Heißgetränke war so niedrig, dass er ein fürstliches Trinkgeld hinterließ. Es war ihm unbegreiflich, wie die Gastronomen im Südburgenland überleben konnten.

„Danke, dass ich Sie begleiten durfte“, sagte er zu Hilda, als er diese nach Hause brachte. „Ich war noch nie auf einem Pensionistentreffen. Das war eine ganz neue Erfahrung für mich. Es war sehr erfrischend.“

„Wen heiratet Ihr Sohn eigentlich?“ Die Frage war ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen. Sie ging im Kopf die burgenländischen Adelsgeschlechter durch. Eine Batthyány, eine Esterházy, vielleicht auch eine ungarische Drašković?

„Er heiratet ein Mädchen von hier. Isabella Kirnbauer.“

„Oh“, sagte Hilda nur, „das ist ja …“ Sie rang nach den richtigen Worten. Jeder im Bezirk wusste, wer der Isabella ihr Vater war. Der alte Säufer. Und ihre Großmutter … über die sprach man besser gar nicht.

„Das ist ja wie bei den englischen Royals“, sagte sie schließlich, „Prinz Harry und Meghan Markle.“

Bertl umklammerte das Lenkrad und sah stur geradeaus.

Er war beileibe kein Rassist. Aber wenn man sagt, man ist kein Rassist und dann ein „aber“ anhängt, ist man erst recht ein Rassist, also sagte er nichts.

„Sie müssen das positiv sehen“, sagte Hilda, die sich wieder gefangen hatte, „so eine Bürgerliche, das ist eine Blutauffrischung. In der Pferdezucht züchtet man bei den Vollblütern auch ab und zu ein Kaltblut ein. Das sorgt für starke Knochen. Sonst degenerieren die Viecher.“

Bertl musste schmunzeln. Wir haben wirklich ein paar Degenerierte in der Familie, dachte er.

„Und außerdem hat sie es wirklich schwer gehabt mit ihrem Vater.“

„Die Meghan Markle?“

„Nein, die Isabella Kirnbauer“, sagte Hilda. „Meine Tochter kennt sie, die ist im selben Gartenklub. Sie ist ein nettes Mädchen“, fügte sie fast tröstend hinzu.

Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was der Pensionistenklub sagen würde, wenn die erfuhren, wen der junge Graf Hohenfelsen heiraten würde. Das war ja wie in der „Neuen Post“. Nur besser, weil man im Südburgenland war und die Leute persönlich kannte. Und eigentlich war es ja auch echt an der Zeit, dass die Isabella unter die Haube kam. Die war schon ohzeidig. Hilda seufzte, als ihr einfiel, wer noch ohzeidig war. Ihre Tochter, die Vera.